Als Pilot-Bibliothek spielt die Technische Hochschule Würzburg-Schweinfurt eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung der Open-Source-Software FOLIO. Dies bringt sowohl Herausforderungen als auch große Chancen mit sich - und ist nur möglich, weil das gesamte Team engagiert mitarbeitet.
Veröffentlicht am 29.07.2024
Eine Hausarbeit oder gar die Abschlussarbeit steht an - um diese schreiben zu können, benötigt man Informationen. Die erste Anlaufstelle für valide und zitierfähige Informationen ist natürlich nicht Google oder Wikipedia, sondern die hochschuleigene Bibliothek. Fachbücher, E-Books, wissenschaftliche Artikel - all diese Quellen stehen online und offline zur Verfügung. Der Ausleihprozess ist für Studierende unkompliziert: Mit wenigen Klicks ist die passende PDF-Datei heruntergeladen oder fast ebenso schnell das physische Buch an der Ausleihtheke ausgeliehen.
Doch was steckt alles dahinter, damit die Quellen überhaupt zur Verfügung stehen und die Ausleihe reibungslos funktioniert? Die Studierenden selbst bekommen meist nur den Bibliothekskatalog zu sehen, dabei sind die Prozesse, die im Hintergrund ablaufen komplex. Jens Renner ist seit 2019 Leiter der Hochschulbibliothek der THWS. Er ist maßgeblich am Open-Source-Projekt FOLIO (kurz für Future of Libraries is Open) beteiligt. FOLIO unterscheidet sich stark vom bisherigen System der Hochschulbibliothek - und spielt eine zunehmend wichtige Rolle an der THWS.
Ausgangspunkt für das innovative Projekt war das alte Bibliothekssystem, das seit den 1980-er Jahren verwendet wird - für IT-Verhältnisse also ein echter Dinosaurier. E-Books waren bei der Einführung des Systems noch kein Begriff - und auch sonst ist das kommerzielle System überholt, ist unflexibel, intransparent und nicht auf individuelle Bedürfnisse angepasst. Das Projekt FOLIO soll diese Probleme beheben. Dabei handelt es sich um eine Open-Source-Software, der Code ist also öffentlich zugänglich und die Software wird dezentral und kollaborativ entwickelt. An FOLIO wird weltweit von verschiedenen Entwicklern und Programmierern gearbeitet.
Wie das System funktioniert
Mit dem Tool werden in erster Linie alle Geschäftsprozesse in einer Bibliothek gesteuert. Ein gutes Beispiel ist das Zurverfügungstellen von Literatur. Dahinter steckt ein ganzer Prozess, welchen der Endnutzer nicht sieht. E-Books machen mittlerweile etwa 96 Prozent des Bibliotheksbestands aus - diese müssen lizenziert und die Lizenzen verwaltet werden. Aktuell existieren Excel-Tabellen, welche die Daten über die Bücher und auch deren Lizenzierung enthalten. Statt unübersichtlicher Excel-Listen soll zukünftig in einem eigenen Portal eine Datenbank erstellt werden. Diese hält Metadaten bereit, also Informationen über das Buch, den Autor, die Lizenzierung und vieles mehr. Wenn man nun herausfinden möchte, warum ein E-Book nicht zur Verfügung steht, ist der verantwortliche Bibliotheksmitarbeiter nur zwei Klicks von der Antwort entfernt. Dies spart sehr viel Zeit gegenüber dem bisherigen Ablauf.
Mut zum Risiko
Der Bibliotheksverbund besteht aus mehreren Universitäts- und Hochschulbibliotheken sowie der Bayerischen Staatsbibliothek. Letztere ist mit etwa 1.000 Mitarbeitenden die größte Bibliothek in Bayern, hat sich aber dafür entschieden, das System eines internationalen kommerziellen Anbieters einzuführen. Die 19 Hochschulen für angewandte Wissenschaften und zehn Universitäten des Freistaats wollen dagegen alle FOLIO einführen. Gerade an den Universitäten stehen meist weit über 100 Stellen für die Bibliothek zur Verfügung. Im Kontrast dazu steht die Hochschulbibliothek der THWS mit 24 Mitarbeitenden, die sich - trotz des relativ kleinen Teams - bereit erklärt hat, die Pilot-Bibliothek zu sein und dabei mit zwei größeren Universitäten zusammenarbeitet. Im Zuge der Pilotphase sollen Probleme gelöst werden, bevor das System bei weiteren Bibliotheken eingeführt wird. Die THWS ist die kleinste der drei Pilot-Bibliotheken. Und doch hat ausgerechnet sie dieses Projekt federführend in die Hand genommen. "Das Bibliothekswesen ist häufig eher konsensorientiert unterwegs und das macht dann Innovationen nicht leichter", sagt Jens Renner. "Andererseits sind die Umbrüche der Digitalisierung nicht zu umgehen und deswegen muss man mal mutig sein und kann nicht nur Projekte beginnen, wo der Erfolg von Anfang an schon sicher ist."
Lisa Wolf ist die Projektleitung für das FOLIO-Projekt. Gleichzeitig betreut sie zusammen mit einer Kollegin den FOLIO-Bereich ERM (Electronic Ressource Management). Auch sie ist der Meinung, dass Flexibilität und das Hinterfragen von alten Strukturen und Geschäftsprozessen essenziell ist. Es sei wichtig, ein gewisses Risiko einzugehen. "Man muss einfach anfangen und darf sich nicht geistig in ‘Was ist, wenn …‘ verlieren", sagt sie. Für die Hochschule ist diese aktive Beteiligung an dem Projekt auch eine große Chance: Die THWS beweist Mut und zeigt anderen, dass sie sich traut, Risiken einzugehen. Dabei wurde zu Beginn davon ausgegangen, dass die THWS eine eher passive Rolle einnehmen würde - doch die Hochschule stellte sich der neuen Herausforderung.
"Das Team ist der Held"
Renner lobt vor allem die fantastischen Menschen, die an dem Projekt arbeiten. FOLIO sei nicht das Werk eines Einzelnen, sondern eine echte Teamleistung, betont er. Es funktioniere nur, weil alle engagiert mitmachen würden. Von Anfang an wurde das gesamte Team miteinbezogen. "Das Team ist der Held", sagt Renner stolz. Jeder einzelne der 24 Bibliotheks-Mitarbeitenden hat eine aktive Rolle und Aufgabe, die zusätzlich zur alltäglichen Arbeit bewältigt werden muss.
"Wir können zeigen, dass man auch mit wenig Personal ein großes Projekt in Angriff nehmen und umsetzen kann", sagt Lisa Wolf. Zusätzlich würde die THWS ihrem Anspruch als "Technische Hochschule" gerecht werden, denn schließlich sei FOLIO ein IT-Projekt. Das Projekt bietet der THWS eine herausragende Möglichkeit, maßgeblich zur Digitalisierung und Modernisierung von Bibliothekssystemen weltweit beizutragen.
Andere Hochschulen können sich an der THWS orientieren und aus ihren Erfahrungen lernen. "Wir werden die erste Hochschulbibliothek in Deutschland sein, die FOLIO mit allen Modulen und an einen großen Bibliotheksverbund angeschlossen in den Live-Betrieb nehmen wird", sagt Jens Renner. "Das ist schon bemerkenswert. Wo vorne ist, erkennt man daran, dass da die THWS ist."
Noch ist FOLIO kein fertiges Produkt, sondern ein Projekt, das sich noch in der Entwicklung befindet. Bis zum 5. August 2024 soll es fertiggestellt sein.